Liebe Leserin, lieber Leser,
wo waren sie nur geblieben, all die Jahre ihres Lebens. Manches Mal saß sie stundenlang einfach nur da und war tief versunken in ihren Erinnerungen. Und immer wieder hat sie mir davon erzählt.
Bilder aus ihrer Kindheit tauchten wieder und wieder auf. Damals auf dem kleinen Dorf, als die Großmutter noch lebte. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Harte Jahre. Auch Jahre der Entbehrung. Als der Vater in Russland blieb. Der eiskalte Winter 1947. Meterhoch lag der Schnee. Eiskalt fegt der Ostwind über die verschneiten Felder.
Plötzlich waren alle diese Bilder wieder ganz klar vor ihrem inneren Auge. Die guten Zeiten. Die große Liebe ihres Lebens. Die Zeit, als die Kinder noch klein waren. Der erste Urlaub. Die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs. Das kleine Siedlungshaus, das sie sich vom Mund abgespart hatten. Glückliche Jahre, voller Heiterkeit und Lebensfreude.
Dann verließen die Kinder das Haus, gingen ihre eigenen Wege. Und die Zeit flog dahin. Gute und schwere Zeiten kamen und gingen. „Je älter du wirst, umso schneller vergeht ein Jahr!“ Das hatte die Großmutter immer gesagt. Früher hatte sie dann nur mit dem Kopf geschüttelt. Zeit ist doch etwas Messbares: Sekunde und Sekunde, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Aber das Leben hatte sie eines Besseren belehrt.
Immer wieder musste sie in ihrem Leben auch schwere, bittere Wege gehen. Als ihr Mann krank wurde. Die Jahre, als sie ihn gepflegt hatte. Jener Tag im Februar, als er starb.
Einen Satz aber hatte sie sich in all den Jahren ihres Lebens bewahrt. Bei ihrer Konfirmation wurde er ihr mit auf den Weg gegeben. Und im Fluge der Zeiten war er ihr oft ein letzter Halt und immer auch ein großer Trost. „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal und beharrlich im Gebet!“
Dieser eine Satz hat sie durch alle Zeiten begleitet, sie getröstet und stark gemacht. Und er hat sie vor der Bitterkeit bewahrt. Das hat sie mir oft mit einem Lächeln und einer tiefen Zufriedenheit erzählt. Gottes Wort hat Kraft. Es trägt Menschen durch die Krisenzeiten hindurch. Und es ist immer wieder auch ein Aufbruch für die Seele und Licht auf unserem Weg.
Ihr Pfarrer
Paul Häberlein
